24.09.2025 | Pressemeldung der Dt. Bischofskonferenz| Nr. 155

Am 31. August 2015 sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel in einem Moment hoher politischer Spannung einen Satz, der bis heute nachwirkt: „Wir schaffen das.“ Es war eine Zusage, ein Aufruf – und ein Versprechen: Deutschland wolle und könne Geflüchtete aufnehmen, integrieren und mit ihnen gemeinsam Zukunft gestalten.
Zehn Jahre danach haben kirchliche Akteure in Deutschland – insbesondere die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) – in einer Pressekonferenz deutlich gemacht: Dieses Versprechen war nicht trivial, es war ein Kraftakt – und die Bilanz fällt gemischt aus.
Die kirchliche Bilanz: Erfolge, Ambivalenzen und Unvollendetes
Aus kirchlicher Sicht fällt die Bilanz folgendermaßen aus:
Erfolge und Positives
- Die Kirche verweist darauf, dass viele Geflüchtete, die damals kamen, heute im Arbeitsmarkt integriert sind: Der Anteil derjenigen, die 2015 nach Deutschland kamen und mittlerweile (wieder) einer Arbeit nachgehen, wird auf rund 64 % beziffert.
- Ehren- und Hauptamtliche in kirchlichen Einrichtungen leisteten über Jahre hinweg intensive Begleitung: Sprachkurse, Hilfe bei Behördengängen, Ausbildungsmöglichkeiten und Netzwerke vor Ort – all das gehörte zur Arbeit, ohne die Integration kaum gelingen hätte können.
- Die Kirche spricht von einem „gesellschaftlichen Lernprozess“: viele ehrenamtliche Initiativen, kirchliche Gemeinden, Nachbarschaften und Zivilgesellschaft haben sich engagiert – vom lokalen Sportverein bis zur Hilfsstruktur in Städten und Kommunen.
- Finanziell hat sich die Kirche stark engagiert: Laut kirchlichen Angaben wurden bis 2025 etwa 1,2 Milliarden Euro für Flüchtlingshilfe mobilisiert, davon etwa 40 % für inländische Maßnahmen und 60 % für internationale Hilfen in den Herkunftsländern.
- Der Erzbischof Stefan Heße, Migrationsbeauftragter der DBK, nennt die Größenordnung der kirchlichen Einsatzkräfte: rund 5.000 hauptamtliche und 35.000 ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in kirchlicher Flüchtlingsarbeit.
Ambivalenzen, Kritik und Baustellen
- Trotz dieser positiven Aspekte bleibt die Kritik: Viele politische Entwicklungen gingen nicht mit der Anfangsenergie der Willkommenskultur mit. Stattdessen kamen bald Verschärfungen bei Asylgesetzen, Einschränkungen beim Familiennachzug und Kürzungen bei Unterstützungsprogrammen.
- Die Kirche beklagt, dass Ehrenamtliche und Hauptamtliche oft auf bürokratische Hindernisse stießen, die ihre Arbeit erschwerten – Genehmigungsverfahren, Fragmentierung der Zuständigkeiten und eine unstetige Finanzierung sind immer wieder benannt.
- Nicht alle Integrationserfolge sind gleich verteilt: Manche Personen, obwohl gut qualifiziert, sehen sich mit Abschiebungsdrohungen konfrontiert – sogar wenn sie sich in Ausbildung oder Arbeit befinden.
- Auch strukturelle Probleme sind nach wie vor wirkmächtig: Mangel an bezahlbarem Wohnraum, überlastete Behörden, Kapazitätsengpässe in Sprachkursen und Schulangeboten oder unzureichende landesweite Perspektivenplanung erschweren das Gelingen einer gleichwertigen Teilhabe.
- Die Kirche klagt, dass politisch zu selten nachhaltig gedacht wurde: Anstelle langfristiger Strategien dominierte oft kurzfristige Krisenpolitik. Viele Hoffnungen auf einen Paradigmenwechsel blieben unerfüllt.
Kommentar: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit – und ein Blick nach vorn
Die kirchliche Bilanz zeigt, worin die Stärke und zugleich die Schwäche liegt: Der Anspruch, Menschen aufzunehmen und gemeinsam zu gestalten, war und ist zutiefst moralisch motiviert – er wurzelt in der christlichen Grundüberzeugung von Nächstenliebe und Solidarität. Doch moralische Energie allein reicht nicht aus; sie braucht tragfähige Strukturen, politisches Rückgrat, verlässliche Planung und gesamtgesellschaftliches Engagement.
Der Satz „Wir schaffen das“ war vor zehn Jahren ein Hoffnungsversprechen – heute zeigt sich: Wir haben Vieles geschafft – aber nicht das Ganze.
Was spricht dafür, stolz zu sein?
Dass viele Geflüchtete heute als Teil der Gesellschaft leben, arbeiten, Steuern zahlen und Verantwortung übernehmen – das ist ein Erfolg, der nicht kleinzureden ist. In zahlreichen Gemeinden, Kirchen und zivilgesellschaftlichen Netzwerken sind über die Jahre tiefe Beziehungen und tragfähige Strukturen entstanden. Diese Verwurzelung ist ein Kapital, auf das weiter aufgebaut werden kann.
Wo muss nachgearbeitet werden?
Der Wert solcher Erfolge darf nicht dazu führen, dass strukturelle Defizite übersehen werden. Eine politische Debatte, die sich nur auf Abschottung und Abschiebung konzentriert, verkennt, dass Integration langfristige Investitionen braucht: in Bildung, Wohnraum, Arbeitsplätze, Verwaltungskapazitäten – und in gesamtgesellschaftliche Akzeptanz. Die Kirche hat schon vor Jahren betont, dass legitime Sorgen in der Bevölkerung ernst genommen werden müssen – aber eben nicht durch Zurückweisung, sondern durch ehrliche Auseinandersetzung und Perspektivenangebote.
Ein Plädoyer für einen zweiten Anlauf
Wenn die Kirche heute Bilanz zieht und nicht einfach nur abwinkt, dann mit der Hoffnung, dass aus den gemachten Erfahrungen eine neue und verbesserte Strategie entstehen kann. Der Blick nach vorn muss lauten:
- Verlässliche politische Rahmenbedingungen schaffen – damit Hilfe nicht nur möglich, sondern planbar bleibt.
- Wo Integration gelingt, muss sie gestärkt werden, nicht durch Kürzungen, sondern durch Ausbau von Angeboten und besseren Ressourcen.
- Strukturen der Mitbestimmung und Teilhabe für Geflüchtete müssen weiter ausgebaut werden – in Kommunen, kirchlichen Gemeinden, Zivilgesellschaft.
- Bildung, Qualifizierung, Mobilität bleiben Schlüssel – Menschen brauchen Perspektiven, keine bloßen Übergangslösungen.
- Gesellschaftliche Verantwortung darf nicht allein auf Kirchen und Ehrenamt fallen. Die Kooperation von Staat, Wirtschaft und Zivilgesellschaft ist unverzichtbar.
Am Ende steht die Frage: Haben wir nur Einzelkämpfer:innen oder ein System, das nachhaltig trägt? Die Kirche hat mit ihrem Einsatz gezeigt, dass viele Menschen bereit sind, mitzutragen. Nun liegt es an Politik, Verwaltung und Gesellschaft insgesamt, daraus eine beständige Kraft zu machen – über den symbolischen Satz hinaus.
Meldung auf www.dbk.de (Link); www.katholisch.de (Link); www.vaticannews.va (Link)