Transformatives Lernen unterstützt (r)BNE und die Umsetzung der SDGs

Handbuch transformatives Lernen, UBA 2021

Ein Handbuch für Kooperationsprojekte zwischen Schulen und außerschulischen Akteur*innen im Kontext von Bildung für nachhaltige Entwicklung

Das Handbuch ist ein Ergebnis des Forschungsprojektes “Transformatives Lernen durch Engagement – Soziale Innovationen als Impulsgeber für Umweltbildung und Bildung für nachhaltige Entwicklung”. Im Projekt wurden in Kooperation zwischen Schulen und zivilgesellschaftlichen Nachhaltigkeitsinitiativen sogenannter Lernwerkstätten im Modus des Service-Learning initiiert, um Kinder und Jugendliche für ein Nachhaltigkeitsengagement zu begeistern. Das Handbuch liefert theoretisches Hintergrundwissen, praktische Empfehlungen, Methoden und Materialien zur Durchführung solcher Lernwerkstätten im Kontext von Bildung für nachhaltige Entwicklung. Es richtet sich an Multiplikator*innen in der schulischen und außerschulischen Bildungsarbeit, sowie an Praxisakteur*innen eines sozial-ökologischen Wandels und möchte dazu ermutigen, innovative Lernformen zu erproben und sich für nachhaltigkeitsorientierte Lernkulturen einzusetzen.

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Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE)

Textauszüge aus Handbuch transformatives Lernen durch Engagement, UBA 2021, Kap. 2

Nachhaltigkeit ist ein Gerechtigkeitskonzept mit dem Ziel, allen Menschen weltweit – heute und in Zukunft – ein gutes Leben innerhalb der ökologischen Grenzen des Planeten zu ermöglichen. Gesellschaftliche Transformationen in Richtung Nachhaltigkeit sind im Angesicht vielfacher Krisen und Herausforderungen wie dem Klimawandel, dem Verlust an Biodiversität oder globaler und lokaler sozialer Ungleichheiten von entscheidender Bedeutung. Die Vereinten Nationen haben sich daher im Jahr 2015 auf international gültige Nachhaltigkeitsziele – die Sustainable Development Goals (SDGs) – verständigt. “Hochwertige Bildung” ist hier nicht nur als ein konkretes SDG (Ziel 4) benannt, sondern hat als Querschnittsaufgabe für alle 17 SDGs eine entscheidende Bedeutung (vgl. Vereinte Nationen 2015).

Bei BNE geht es nicht nur um Inhalte, also was gelernt wird, sondern auch um didaktische Prinzipien und die Gestaltung von Lernumgebungen, also wie gelernt wird. BNE bedarf einer lerner*innenzentrierten, interaktiven, projektbasierten Pädagogik, experimenteller Freiräume und einer wirksamen Partizipation aller Beteiligten. Im Sinne des von der UNESCO vorgeschlagenen gesamtinstitutionellen Ansatzes, des Whole Institution Approach, sollen Bildungseinrichtungen auf allen Ebenen grundlegende Aspekte von Nachhaltigkeit – z.B. intra- und intergenerationelle Gerechtigkeit, demokratische Entscheidungsfindung oder Suffizienz – umsetzen. Lernumgebungen sollen Lernenden ermöglichen, das zu leben, was sie lernen und das zu lernen, was sie leben (vgl. ebd.). Das Folgeprogramm der UNESCO BNE 2030 startete 2020 und wird bis 2030 laufen.7 Es zielt auf den Beitrag von BNE für die Erreichung der globalen Nachhaltigkeitsagenda 2030.

Diesem Handbuch liegt ein kritisch-emanzipatorisches Verständnis von BNE zu Grunde. Im Sinne kritisch-emanzipatorischer BNE soll es nicht darum gehen, Lernende von nachhaltigen Verhaltensweisen zu überzeugen, sondern sie darin zu unterstützen, sozial-ökologische Zusammenhänge zu verstehen, vorherrschende gesellschaftliche Grundannahmen kritisch zu hinterfragen und selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen (vgl. Vare, Scott 2007). Ziel soll die Stärkung der (Selbst-)Reflexionsfähigkeit sein, insbesondere bezogen auf Ideologien, Machtverhältnisse, Normen und Werte und die davon geprägten eigenen Denk-, Fühl- und Handlungsweisen (vgl. Singer-Brodowski 2016b). Dies unterstützt eine nachhaltige Entwicklung im Sinne einer gemeinschaftlichen Emanzipation von Strukturen, die auf der Ausbeutung von Mensch und Natur begründet sind.

Von BNE zu transformativer BNE

Aufbauend auf einem kritisch-emanzipatorischen Verständnis von BNE ist eine Diskussion um Konzepte einer sogenannten transformativen Bildung entstanden. Darin werden aktuell die Ziele und Ansätze von BNE aus einer machtkritischen Perspektive hinterfragt und neu ausgelegt.10 Viele Ansätze innerhalb der BNE-Praxis werden dafür kritisiert, dass sie sich vorwiegend mit den Symptomen globaler Schieflagen und Herausforderungen von Nachhaltigkeit und zu wenig mit deren systemischen Ursachen beschäftigen.

Aus diesem Grund wird vorgeschlagen, u.a. kapitalismuskritische, wachstumskritische und postkoloniale Perspektiven stärker in der BNE zu berücksichtigen und Lernende darin zu unterstützen, grundsätzliche Fragen zu (global-)gesellschaftlichen Machtverhältnissen und systemischen Interessenkonflikten zu diskutieren.

Des Weiteren wird problematisiert, dass Lernende vorwiegend als Konsument*innen angesprochen und ihre Handlungsmöglichkeiten vor allem mit Blick auf individuelle Konsumentscheidungen aufgezeigt werden. BNE sollte im Sinne transformativer Bildung stärker Lernräume eröffnen, in denen Menschen in ihrer Rolle als Bürger*innen politische Mitgestaltung lernen und erproben können.

Die beiden sich ergänzenden Ziele einer sogenannten transformativen Bildung, nämlich 1) die kritische Reflexion gesellschaftlicher Grundannahmen und der darauf beruhenden Lebens- und Wirtschaftsweisen und 2) die Betonung des Politischen in Bildungsprozessen, werden auch in der aktuellen UNESCO Roadmap des Programms BNE 2030 hervorgehoben und somit besonders legitimiert.

Transformatives Lernen

Transformatives Lernen beinhaltet einen Prozess, in dem Menschen ihre bisherigen Bedeutungsperspektiven als solche erkennen, hinterfragen und verändern. Hier geht es demzufolge nicht um ein Lernen im Sinne einer Erweiterung von Wissen oder Fähigkeiten, sondern um eine grundlegende qualitative Veränderung von Selbst- und Weltverständnissen. Es geht um tiefgreifendes Verlernen zuvor unkritisch erlernter Denk-, Fühl- und Handlungsmuster.

Häufig werden transformative Lernprozesse durch ein „desorientierendes Dilemma“ ausgelöst (vgl. Mezirow 2000). In einer irritierenden Situation wird deutlich, dass die bisherige Interpretation der Geschehnisse in der Welt – die bisherige Brille – nicht mehr zur aktuellen Wahrnehmung und Interpretation passt. Lernende realisieren dann, dass ihre bisherigen Bedeutungsperspektiven begrenzt und nicht mehr hilfreich zur Interpretation der Situation und damit einhergehend der Bewältigung der aktuellen Problemlagen sind.

Auslöser transformativer Lernprozesse sind meist persönliche oder gesellschaftliche Umbrüche oder Krisen, aber auch kleinere Ereignisse wie ein Gespräch, Theaterstück oder Film können eine transformative Perspektivenerweiterung auslösen. Transformative Lernprozesse verlaufen in der Praxis nicht unbedingt in geradlinigen Phasen, sondern eher in sich wiederholenden Schleifen oder Sprüngen zwischen den Phasen.

Reflexionsfragen zu eigenen transformativen Lernprozessen

  • Welche transformativen (Ver-)Lernprozesse habe ich selbst bereits in meinem Leben durchlebt?
  • An welchen Stellen meines Lebens hat sich die Art und Weise, wie ich in die Welt und auf mich selbst blicke, tiefgreifend verändert?
  • Was hat mich in dieser Zeit bewegt?
  • Wer oder was hat diesen Lernprozess ausgelöst?
  • Wie verlief dieser Lernprozess?
  • Welche Rolle hat Reflexion dabei gespielt?
  • Wie wichtig waren andere Menschen dafür und was genau haben sie gemacht?

Pädagogische Begleitung transformativer Lernprozesse

Transformatives Lernen findet häufig außerhalb geplanter Bildungsangebote statt – informell, angestoßen von besonderen Begegnungen und Ereignissen im Leben und in selbstorganisierten Gruppen. Nach einem sozial-konstruktivistischen Verständnis ist Lernen dann erfolgreich, wenn sich Lernende aktiv und eigeninitiativ auf den Weg machen, die eigene Entwicklung voranzubringen. Auch transformatives Lernen folgt den Prinzipien der Selbstorganisation. In diesem Sinne sind transformative Lernprozesse pädagogisch nicht kontrollier- oder steuerbar. Es gibt jedoch eine Vielzahl an didaktischen Ansätzen, die selbstorganisierte Lernprozesse sowie transformatives Lernen begleitend unterstützen und daher ermöglichen können.

Lernwerkstätten können dazu beitragen, denn aus der Theorie transformativen Lernens lassen sich durchaus Empfehlungen für Didaktik und Methodik für eine solche Bildungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen ableiten.

Im TrafoBNE-Projekt wurde im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitforschung von den erwachsenen Lernbegleiter*innen geäußert, dass folgende Aspekte als irritierend und anregend für eigene Reflexions- und Lernprozesse empfunden wurden: das Aushalten ergebnisoffener Prozesse; die Zusammenarbeit und intensive Kommunikation mit Menschen unterschiedlicher beruflicher Hintergründe in multiprofessionellen Teams; das Abbauen von Hierarchien zwischen Erwachsenen und Jugendlichen in der partizipativen Gestaltung der Lernwerkstätten; die Übergabe von Mit-Verantwortung an die jungen Menschen; die Erfahrung, dass Partizipation Übung und gute Begleitung braucht und nicht zuletzt das ernsthafte Interesse der Kinder und Jugendlichen an Nachhaltigkeit zwischen Zukunftsangst und Handlungsmut.

Die Jugendlichen äußerten, dass sie vor allem durch das praktische Tätigsein neue Fähigkeiten wie Nähen, Upcyling-Bauen, Pflanzen vermehren oder Saftpressen gelernt haben. Es war etwas Besonderes für sie, freier und selbstständiger zu lernen, bei der Auswahl der Themen und Aktivitäten mitzuentscheiden und mit ihren Ideen ernst genommen zu werden. Bei mehreren Jugendlichen wurde durch das Projekt die Motivation gestärkt, sich weiter mit Nachhaltigkeitsfragen zu beschäftigen. Dies verdeutlicht, dass sich alle an einer Lernwerkstatt Beteiligten als Lernende verstehen können.

Transformative religiöse BNE

Das Hinterfragen und Verändern von Bedeutungsperspektiven erfordert, dass diese im Rahmen einer relativ stabilen Identität bis zu einem gewissen Grad ausgebildet sind. Bei Kindern und Jugendlichen ist dieser Prozess noch nicht so weit fortgeschritten wie bei Erwachsenen. Deshalb ist es wichtig, auch die Jugendpastoral unter dem Aspekt der transformativen religiösen Bildung zu betrachten. Hierbei nehmen Katecheten eine entscheidende Rolle bei der Installation von Lernwerkstätten als offene Erfahrungsräume und der Begleitung der Kinder und Jugendlichen ein.

Das Aushalten ergebnisoffener Prozesse; die Zusammenarbeit und intensive Kommunikation mit Menschen unterschiedlicher beruflicher Hintergründe in multiprofessionellen Teams; das Abbauen von Hierarchien zwischen Erwachsenen und Jugendlichen in der partizipativen Gestaltung der Lernwerkstätten; die Übergabe von Mit-Verantwortung an die jungen Menschen; die Erfahrung, dass Partizipation Übung und gute Begleitung braucht und nicht zuletzt das ernsthafte Interesse der Kinder und Jugendlichen an Nachhaltigkeit zwischen Zukunftsangst und Handlungsmut. (Handbuch transformatives Lernen, UBA 2021)