Kommentar von FJ Klausdeinken zum Offenen Brief des Franziskaners Johannes Griese (Bacabal/Brasil) an die CDU

Wer Brasilien nur für 20 Stunden besucht, sieht oft nur die äußere Kulisse: Hitze, Verkehr, Chaos, Überforderung. Wer dagegen über 20 Jahre bleibt, wie der Franziskaner Johannes Gierse, der sieht und hört etwas anderes: die Gesichter, die Geschichten, die Wunden und Hoffnungen eines Landes, das nicht Kulisse ist, sondern Lebensrealität von Millionen – und entscheidend für die Zukunft unseres gemeinsamen Hauses Erde.
Die irritierenden Äußerungen von Friedrich Merz zum Stadtbild von Belém während der COP30 haben deshalb nicht nur in Brasilien eine Welle der Empörung ausgelöst. Sie berühren einen empfindlichen Nerv: die Erfahrung, dass der Globale Süden allzu oft nur aus der Distanz eines flüchtigen Blicks beurteilt wird. Ein Blick, der bewertet, bevor er versteht. Ein Blick, der urteilt, ohne zu hören.
Papst Franziskus kritisiert in Laudato Si’ wie in Laudate Deum genau diese Haltung. Er fordert eine „Ökologie des Sehens und Hörens“, ein Wahrnehmen, das nicht an der Oberfläche stehen bleibt. Wer die Welt nur nach Effizienz, Ordnung und Ästhetik bewertet, verfehlt ihre Wahrheit. Und verfehlt vor allem die Menschen, die sie tragen.
Belém ist – wie Bruder Johannes schreibt – keine glänzende Metropole des Nordens. Die Stadt ist Ausdruck sozialer Ungleichheit, kolonialer Geschichte, ökologischer Verwundbarkeit. Doch gerade deshalb hat Brasilien die COP dorthin eingeladen: damit die Welt vor Ort sieht, womit sie es zu tun hat. Nicht im klimatisierten Saal von Doha, nicht vor der Postkartenkulisse von Paris, sondern am Amazonas, in der Region, in der das Schicksal des weltweiten Klimas entschieden wird.
Christliche Spiritualität – besonders die franziskanische – beginnt mit Aufmerksamkeit:
Hinsehen, wo andere wegschauen. Hinhören, wo andere vorschnell urteilen. Nähe suchen, statt Distanz zu pflegen.
Das ist die Haltung, die Papst Franziskus meint, wenn er von einer „inneren Bekehrung“ spricht. Und es ist die Haltung, die Bruder Johannes lebt, wenn er sagt: In Brasilien geht es nicht darum, Gott zu bringen – sondern Christus dort zu dienen, wo er heute leidet.
Daraus erwächst ein klarer Appell an uns in Europa – und an jeden, der eine Reise unternimmt, sei sie politisch oder privat:
Wer Länder, Kulturen und Menschen verstehen will, darf nicht die Momentaufnahme des flüchtigen Augenblicks zum Maßstab machen.
Wer nach 20 Stunden ein Urteil fällt, nimmt sich selbst die Chance auf Erkenntnis.
Wer sich aber Zeit nimmt – für einen Perspektivwechsel, für Begegnung, für Zuhören –, der entdeckt, dass hinter der sichtbaren Armut oft eine große kulturelle, spirituelle und ökologische Tiefe liegt.
Die Herausforderungen zwischen Nord und Süd werden nicht durch scharfe Worte, sondern durch echtes Verstehen geringer. Und dieses Verstehen beginnt nicht mit Reden, sondern mit Wahrnehmen.
Dass zwei Sauerländer so unterschiedlich auf Brasilien blicken können – einer nach 20 Stunden, der andere nach 20 Jahren – zeigt nur eines:
Wie wir die Welt sehen, hängt weniger von der Welt ab als von unserer Bereitschaft, uns auf sie einzulassen.
Mögen wir – politisch wie persönlich – den Weg wählen, der tiefer sieht, genauer hinhört und wahrhaft verbindet. Nur so hinterlassen wir jenes „Zeugnis großzügiger Verantwortlichkeit“, von dem Papst Franziskus spricht.
Offener Brief von Br. Johannes Gierse, Franziskaner, Bacabal/Brasil an die die Christlich Demokratische Union (CDU) und an alle interessierten BürgerInnen
in Deutschland
„…doch wenn (ein Polítiker) es zu tun wagt (Verantwortung zu übernehmen, die nicht der auf Effizienz und Unmittelbarkeit ausgerichteten Logik der aktuellen Wirtschaft und Politik entspricht), wird er wieder die Würde erkennen,
die Gott ihm als Menschen verliehen hat, und nach seinem Weg durch diese Geschichte ein Zeugnis großzügiger Verantwortlichkeit hinterlassen.“
Der eine Sauerländer (70) kam nach Brasilien, noch bevor die COP 30 am 10. November offiziell in Belém begann, blieb “knapp 20 Stunden“, um mit Präsident Lula freundschaftlich zu sprechen und sich über den Beitrag Deutschlands zum TFFF, dem Milliarden schweren Tropical Forest Forever Facility, zu äussern.
Der andere Sauerländer (65) kam 1990 nach Brasilien, um als Franziskaner – wie viele andere vor ihm – die Armen im armen Nordosten zu „evangelisieren“; nein, nicht im Sinne, dass er ihnen Gott bringen oder erklären müsste – an den glauben sie, seitdem die Portugiesen hier im Jahr 1500 mit Schwert und Kreuz angekommen sind, sondern um Christus in den Gekreuzigten von heute zu dienen und sie vom Kreuz zu holen.
Lesen Sie den ganzen „Offenen Brief“ von Br. Johannes Gierse