Soester Pfarrerin im Adventskalender der C4F Deutschland
Das Staunen ist der Königsweg zu Gott
Predigt zur Schöpfung Gottes
Pfarrerin Leona Holler, St. Petri-Pauli, Soest
In meinem Fall waren es zweimal gut 3800 Gramm, kleine Brocken oder vielmehr Wonneproppen. Kleine Wonneproppen von gut 3800 Gramm, die mir zweimal, einmal vor 20 Jahren, einmal vor 18 Jahren, in den Arm gelegt wurden. Noch etwas verschmiert, aber doch wunderschön. Wunderschön perfekt: wie Perlen aneinandergereiht die winzigen Zehen, die Nase mit zarten kleinen Punkten, lange schmale Fingerchen mit Andeutungen von Nägeln nur und obendrein, als Extrabeigabe, überaus viele Haare. Als hätte es diese Extrabeigabe gebraucht – nein, bei Weitem nicht.
Wie gut kann ich mich noch daran erinnern, wie meine Kinder mir nach ihren Geburten in die Arme gelegt wurden – perfekte, wunderschöne Menschenkinder. Wie kann ich mich noch daran erinnern, wie die Liebe mich durchflutete, die Liebe – und dieses Staunen. Dieses tiefe, Herz und Seele berührende Staunen. Menschenskind – da liegst du so perfekt in meinen Armen, bist irgendwie so vor dich hin gewachsen zu dieser Schönheit und ich habe nichts dazu beitragen können, als dir einen Raum zum Wachsen zu geben. Bist mir anvertraut worden ohne mein Zutun. Bist ins Leben geschickt worden, als es Zeit für dich war. Hast alles, was du brauchst zum Leben, ohne dass ich deine Nase geformt und deine Haare gesponnen hätte. Nächtelang, tagelang kein Schlaf, sondern nur Liebe – und Staunen. Menschenskind – was für ein Geschenk!
Liebe – und Staunen! Vielleicht ist es der Moment des neu entstandenen Lebens, ist es der Moment der Geburt eines Kindes, der uns Liebe und Staunen in nie dagewesener Weise fühlen lässt. Liebe und Staunen über diese tief existentielle Erfahrung von Leben, das auf die Welt kommt. Klein, zart und vollkommen perfekt, ohne dass wir auch nur einen Hauch dazu hätten beitragen können!
Diese tief existentielle Erfahrung machen wir immer und immer wieder. Erleben immer und immer wieder, dass da Leben entsteht, auf das wir keinen Einfluss haben. Nase, Ohren, Zehen, Herz und Seele – wir haben das nicht geformt, ich habe da nicht gesessen mit einem Klumpen Erde in der Hand – nein, Gott sei Dank nicht. Noch ist jedes Leben ein abgrundtief liebevolles Geschenk, das mich seit 20, seit 18 Jahren jeden Tag aufs Neue staunen lässt.
Ja, meine Kinder haben mich das Staunen gelehrt. Nicht nur durch ihre Geburt. Sie haben mich Teil ihres eigenen kindlichen Erstaunens werden lassen: über die kleinen, zarten Zehen wie aneinander gereihte Erbsen in der Schote. Über die Milch, die die Kuh schenkt, und den Honig, den die Bienen erarbeitet haben. Darüber, dass Maulwürfe mit großen Hügeln in unserem Garten Spuren hinterlassen, hatten meine Kinder nur großes Staunen übrig. Sie haben gestaunt, als sie erkannt haben, wie aus einzelnen Zeichen Buchstaben und aus Buchstaben Wörter entstanden. Baff erstaunt standen sie am Ufer des Meeres oder am Kamm einer Bergkette. Staunend haben sie das Rosa des Himmels entdeckt und die Zunge nach den ersten Schneeflocken ausgestreckt.
Für meine Kinder gab es kein Ungeziefer und keine Schädlinge, keine Nutztiere und kein Unkraut. Staunend haben sie Pflanzen und Tiere kennengelernt und haben mich durch und durch rationalisierten Menschen, dessen erwachsenes Hirn die Dinge schnell zu katalogisieren, sortieren, einordnen, beurteilen meint, das Staunen gelehrt. Das Staunen über das Leben. Das Leben, wie es sich doch jeden Tag wieder zeigt, wenn du hinschaust wie ein Kind.
Wenn du hinschaust wie ein Kind, dann erkennst du die Schöpfung, Gottes großes Geschenk in der Welt, in der du lebst. Und dann kannst du doch nichts anderes als einfach nur staunen.
Das Staunen hat in der Geschichte der Philosophie und Theologie viel Beachtung gefunden. Dabei scheint es vor allem zwei Richtungen gegeben zu haben. Die eine Richtung um den Kirchenvater Augustin konnte dem Staunen nichts Gutes abgewinnen. Augustin mahnte an, dass ein Mensch, der staunt, davon abgehalten wird, Gott allein als Ursache hinter den Dingen zu sehen. Thomas von Aquin hingegen fand, dass das Staunen eine Sehnsucht nach Wissen sei.
Und tatsächlich beweist die Geschichte, dass der Mensch es vorgezogen hat, den Dingen auf den Grund zu gehen, sie zu erforschen, zu vermessen, zu katalogisieren. Sehr viel haben wir dadurch begreifen können von der Welt, in der wir leben. Haben aber auch zugleich beginnen können, sie uns habbar, untertan zu machen, ihre Geheimnisse aufzudecken und sie uns zu Nutzen zu machen. Bis in die tiefsten Tiefen der Erde hinein, hoch bis zu den Sternen haben wir Menschen uns gebracht, die Folgen sind mitunter verheerend:
Das Staunen ist dem Erschrecken gewichen, dem Erschrecken darüber, wie weit wir Menschen zu gehen bereit sind, wenn es nur zu unserem Nutzen ist. Wer sie gesehen hat, die Plastikstrände in Thailand, wer hinschaut auf die zutiefst verzweifelten Menschen in Nepal oder in den USA, die ihr Hab und Gut in den Fluten und dem Wirbelsturm verloren haben, wer sich anschaut, wie Kinderhände Stoffe durch giftige Farbtonnen schwenken, damit wir ein buntes T-Shirt für 10 Euro kaufen können, wer gesehen hat, wie in der eigenen Nachbarschaft täglich 20.000 Schweine erst vergast und dann zerlegt werden (durch Billigarbeitskräfte aus Osteuropa), wer durch die Reste eines Borkenkäfer-geschädigten Waldes spaziert, wer genau hinsieht, dessen Staunen weicht dem Entsetzen. Dem Entsetzen darüber, was wir dieser Schöpfung antun, die doch im Wesentlichen nichts anderes ist als Gottes Kind, uns anvertraut, damit wir staunen und lieben und bewahren.
Dabei, Mensch, wissen wir längst Bescheid darüber, was wir dieser Welt antun, wenn wir sie aushöhlen, erobern, zerbomben, Lebensraum vernichten, wenn wir das Staunen verlernen und unser Wissensdrang der Eroberung weicht. Längst ist doch alles gesagt:
Die Himmel sind es, die alles schon längst gesagt haben. Die Himmel sind es, die uns erzählen, von der Ehre Gottes. So steht es im 19. Psalm:
Die Himmel erzählen die Ehre Gottes, und die Feste verkündigt seiner Hände Werk. 3 Ein Tag sagt’s dem andern, und eine Nacht tut’s kund der andern, 4 ohne Sprache und ohne Worte; unhörbar ist ihre Stimme. 5 Ihr Schall geht aus in alle Lande und ihr Reden bis an die Enden der Welt. Er hat der Sonne ein Zelt am Himmel gemacht; / 6 sie geht heraus wie ein Bräutigam aus seiner Kammer und freut sich wie ein Held, zu laufen die Bahn. 7 Sie geht auf an einem Ende des Himmels / und läuft um bis wieder an sein Ende, und nichts bleibt vor ihrer Glut verborgen. 8 Das Gesetz des HERRN ist vollkommen und erquickt die Seele. Das Zeugnis des HERRN ist gewiss und macht die Unverständigen weise. 9 Die Befehle des HERRN sind richtig und erfreuen das Herz. Die Gebote des HERRN sind lauter und erleuchten die Augen. 10 Die Furcht des HERRN ist rein und bleibt ewiglich. Die Rechte des HERRN sind wahrhaftig, allesamt gerecht. 11 Sie sind köstlicher als Gold und viel feines Gold, sie sind süßer als Honig und Honigseim. 12 Auch lässt dein Knecht sich durch sie warnen; und wer sie hält, der hat großen Lohn. 13 Wer kann merken, wie oft er fehlet? Verzeihe mir die verborgenen Sünden! 14 Bewahre auch deinen Knecht vor den Stolzen, dass sie nicht über mich herrschen; so werde ich ohne Tadel sein und unschuldig bleiben von großer Missetat. 15 Lass dir wohlgefallen die Rede meines Mundes / und das Gespräch meines Herzens vor dir, HERR, mein Fels und mein Erlöser.
Ohne Sprache und ohne Worte erzählen uns Himmel und Erde, wer der Schöpfer aller Dinge ist, wer am Ende all unseres Staunens stehen muss – nicht der Mensch, der doch nur Teil der Schöpfung ist. Nicht er ist es, der die Sonne am Himmel gemacht hat, die sich um die Erde dreht, Tag und Nachtzeit einläutet, die unserem Leben die Richtung weist. Nicht der Mensch ist es, der am Ende unseres Staunens steht. Die Himmel erzählen die Ehre Gottes und die Feste verkünden seiner Werk Hände. Am Ende unseres Staunens kann nur Gott stehen.
Gott, der Himmel und Erde gemacht hat, Gott, der allein Leben schafft, der am Anfang unseres Lebens steht und an seinem Ende. Gott allein ist der Schöpfer dieser Welt.
Wer das versteht, wer sich selbst einfügt als Teil der Schöpfung, der verlernt das Staunen nicht. Der versteht mit einem Male nicht nur im Kopf, sondern auch in Herz und Seele das Gesetz, das Zeugnis, die Befehle und Gebote unseres Gottes, die doch im Wesentlichen sich zusammenfassen lassen: Versuche nicht, zu sein wie Gott. Das bringt der Welt nur Unglück. Damit entsetzt du diese Schöpfung und reißt sie ins Verderben. Versuche nicht, zu sein wie Gott! Mensch, bleib Mensch! Menschenskind, verlerne das Staunen nicht!
Denn das Staunen, das ist der Königsweg zu Gott. Staune mit großen Augen und einem offenen Herzen! Staune über das, was Himmel und Erde dir erzählen, jeden Tag neu, vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang! Menschenskind, staune! Und liebe! Denn dann wird es am Ende wieder sehr gut sein.
Herzliche Grüße
aus dem adventlichen Soest in Westfalen,
Ihre Pfarrerin Leona Holler
Gedanken zum 3. Dezember im Adventskalender der Christians for Future, Deutschland (url-Link)
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