Ein Kommentar von FJ Klausdeinken
Ist die globale, soziale und ökologische Transformation eine Vision?
Die Welt steht am Scheideweg: Klimakrise, soziale Ungleichheit, zunehmende Armut, Verteilungskämpfe um Ressourcen und die Erosion von Demokratie und Menschenrechten stellen uns vor drängende globale Herausforderungen. In diesem Kontext wird zunehmend die Frage gestellt, welche Rolle „Anwaltschaft“ oder „Interessenvertretung“ bei der Gestaltung einer gerechteren und nachhaltigeren Zukunft spielen können. Insbesondere die Ethik der Anwaltschaftlichkeit und die advokatorische Praxis – also die aktive Rolle von „Anwältinnen“ als Verfechter*innen von Rechten und Gerechtigkeit – sind in den letzten Jahren zu einem bedeutenden Thema geworden. Kann die anwaltschaftliche Tätigkeit über die bloße Verteidigung individueller Interessen hinaus zur Lösung globaler sozialer und ökologischer Probleme beitragen? Und wie lässt sich dies in der Praxis umsetzen?
Die traditionelle Rolle der Anwält*innen
Anwältinnen sind traditionell als „Hüterinnen des Rechts“ und als Verteidigerinnen von Rechten bekannt. Ihre Aufgabe besteht darin, die Rechte ihrer Klientinnen zu vertreten, den Zugang zur Justiz zu sichern und die rechtlichen Normen eines Staates zu wahren. Diese Rolle ist von entscheidender Bedeutung für das Funktionieren eines Rechtsstaates und die Wahrung der sozialen Ordnung. Doch die aktuelle globale Krise hat die Frage aufgeworfen, ob diese traditionelle Vorstellung von Anwaltschaft ausreicht, um den tiefgreifenden sozialen und ökologischen Wandel voranzutreiben, der notwendig ist, um die Weltwirtschaft und Gesellschaft nachhaltig zu transformieren.
Die advokatorische Praxis – die Tätigkeit von Anwältinnen als aktive Vertreterinnen von Rechten und als Verfechterinnen des Gemeinwohls – wird zunehmend hinterfragt: Sollten Anwältinnen nicht nur im Rahmen des bestehenden Systems agieren, sondern auch proaktiv an der Gestaltung eines gerechten und ökologisch verantwortungsvollen Rechtsrahmens arbeiten? Ist es möglich, dass Anwältinnen ihre Expertise nicht nur zur Verteidigung individueller Interessen einsetzen, sondern als Agentinnen des Wandels, die die Transformation von sozialen und ökologischen Systemen vorantreiben?
Die Ethik der Anwaltschaftlichkeit als Grundlage für eine soziale und ökologische Transformation
Die Ethik der Anwaltschaftlichkeit geht weit über das technische Wissen und die juristische Expertise hinaus, die in der anwaltlichen Praxis erforderlich sind. Sie umfasst auch die moralische Verantwortung, die Anwält*innen gegenüber der Gesellschaft, dem Klima und den nachfolgenden Generationen haben. In einer Welt, die von wachsender sozialer Ungleichheit und einer sich verschärfenden ökologischen Krise geprägt ist, könnte die Ethik der Anwaltschaftlichkeit als Verpflichtung zu sozialer Gerechtigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit neu interpretiert werden.
1. Gesellschaftliche Verantwortung und soziale Gerechtigkeit
Anwältinnen sind in der Regel darauf ausgebildet, individuelle Rechte zu schützen und zu verteidigen. Sie vertreten Klientinnen, die im Rechtssystem benachteiligt sind, seien es arme, diskriminierte oder marginalisierte Gruppen. Diese Rolle hat immer schon einen ethischen Kern, da sie darauf abzielt, die Gleichheit vor dem Gesetz und die Wahrung von Rechten zu gewährleisten. Doch vor dem Hintergrund der globalen sozialen Krise, die sich in wachsender Armut, Ungleichheit und Diskriminierung manifestiert, stellt sich die Frage, ob Anwält*innen nicht auch eine aktivere Rolle bei der Systemkritik und der Rechtsetzung spielen sollten.
Im Rahmen der advokatorischen Praxis könnten Anwältinnen nicht nur die Rechte von Individuen verteidigen, sondern auch als Verfechterinnen von Systemveränderungen auftreten. Sie könnten sich für soziale Bewegungen einsetzen, die für Gerechtigkeit, Chancengleichheit und den Abbau struktureller Ungleichheiten kämpfen. Diese Art von „kritischer Anwaltschaft“ würde bedeuten, dass Anwältinnen sich nicht nur als Verteidigerinnen des bestehenden Rechts verstehen, sondern als Agent*innen des Wandels, die aktiv die sozialen und politischen Strukturen hinterfragen und reformieren.
2. Ökologische Verantwortung und der Schutz der Umwelt
Die Ethik der Anwaltschaftlichkeit in einer Zeit der ökologischen Krise verlangt eine Erweiterung des klassischen Verständnis von „Rechtsschutz“ auf die Dimension des Umweltschutzes. Klimawandel, Verlust der Biodiversität, Umweltzerstörung und Ressourcenerschöpfung sind globale Phänomene, die nicht nur die Gegenwart bedrohen, sondern auch die Zukunft künftiger Generationen in Frage stellen. Anwältinnen könnten in diesem Kontext nicht nur als Verteidigerinnen von Menschenrechten auftreten, sondern auch als Verteidiger*innen der Natur und des ökologischen Gleichgewichts.
Die Idee, „Rechte der Natur“ in die rechtliche Praxis zu integrieren, hat in einigen Ländern bereits Einzug gehalten. So wurde in Ecuador 2008 in der Verfassung das Recht der Natur anerkannt, das der Umwelt eigene Rechte zugesteht und die Zerstörung natürlicher Lebensräume unterbindet. Anwält*innen könnten hier eine aktive Rolle übernehmen, indem sie Klagen im Namen der Natur einreichen und vor Gericht für den Schutz von Ökosystemen und natürlichen Ressourcen kämpfen. Sie könnten auch multinationale Unternehmen und Staaten verklagen, die für Umweltzerstörung und Klimawandel verantwortlich sind, und dadurch dazu beitragen, den Rechtsrahmen für eine nachhaltige Zukunft zu gestalten.
3. Globale Verantwortung und interdisziplinäre Zusammenarbeit
Eine weltweite soziale und ökologische Transformation erfordert mehr als nur nationale oder lokale Lösungen. Die Probleme sind global und erfordern eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Anwältinnen, Ökonominnen, Soziologinnen, Wissenschaftlerinnen und Aktivistinnen. Anwältinnen, die sich für soziale und ökologische Gerechtigkeit einsetzen, müssen ihre traditionellen juristischen Grenzen überschreiten und als Teil eines größeren Netzwerks von Expertinnen und Aktivistinnen arbeiten.
In der advokatorischen Praxis der Zukunft könnten Anwältinnen eine Schlüsselrolle als Brückenbauerinnen übernehmen, indem sie die rechtlichen und politischen Dimensionen von sozialen und ökologischen Problemen aufgreifen und in internationaler Zusammenarbeit Lösungen entwickeln, die über nationale Rechtssysteme hinausgehen. Sie könnten den globalen Zugang zu Gerechtigkeit fördern und ein weltweites Netzwerk von Anwält*innen schaffen, die sich für eine ganzheitliche, integrative und gerechte Weltordnung einsetzen.
Die Umsetzung: Praktische Wege für eine transformatorische Anwaltschaft
Die Umsetzung dieser Vision einer ethischen, advokatorischen Praxis, die sich für die globale soziale und ökologische Transformation einsetzt, ist zweifellos eine große Herausforderung. Dennoch gibt es bereits heute zahlreiche Beispiele von Anwält*innen und Juristenorganisationen, die diese Prinzipien in der Praxis umsetzen.
- Ökologisches Recht und Klimaklagen: Es gibt eine wachsende Zahl von Klimaklagen, in denen Anwält*innen gegen Staaten und Unternehmen vorgehen, die für die Zerstörung der Umwelt und den Klimawandel verantwortlich sind. Diese Klagen sind oft innovativ und setzen neue rechtliche Maßstäbe.
- Rechtsaktivismus für soziale Gerechtigkeit: Anwältinnen weltweit engagieren sich zunehmend für die Rechte von Migrantinnen, Flüchtlingen, indigenen Völkern und anderen marginalisierten Gruppen. Sie arbeiten eng mit sozialen Bewegungen zusammen und tragen dazu bei, die Rechte der am stärksten benachteiligten Gesellschaftsgruppen zu schützen.
- Internationaler Rechtsrahmen für nachhaltige Entwicklung: Anwält*innen setzen sich auf internationaler Ebene dafür ein, dass verbindliche rechtliche Standards für nachhaltige Entwicklung und Umweltschutz geschaffen werden. Sie arbeiten in internationalen Organisationen, wie den Vereinten Nationen, und entwickeln rechtliche Instrumente für den globalen Umweltschutz.
Fazit: Die Vision einer anwaltlichen Praxis für die globale Transformation
Die Ethik der Anwaltschaftlichkeit und die advokatorische Praxis haben das Potenzial, weit über die klassische Verteidigung individueller Rechte hinauszugehen. In einer Welt, die zunehmend mit tiefgreifenden sozialen und ökologischen Krisen konfrontiert ist, können Anwält*innen eine entscheidende Rolle bei der Transformation der bestehenden Systeme spielen. Es erfordert eine grundlegende Neuorientierung der anwaltlichen Ethik: nicht nur die Wahrung des bestehenden Rechts, sondern die aktive Mitgestaltung einer gerechten und nachhaltigen Weltordnung.
Eine anwaltliche Praxis, die sich für die globale soziale und ökologische Transformation einsetzt, mag ambitioniert erscheinen, aber sie ist notwendig. Nur durch eine solche radikale Neuausrichtung können Anwältinnen ihren ethischen Verpflichtungen gerecht werden und als aktive Gestalterinnen einer besseren Zukunft auftreten.
Wie enden Kriege? Siebter digitaler Studientag der Evangelischen Akademien zur Friedensethik am 29. Oktober 2024
Mehr Diplomatie wagen! Friedensverhandlungen jetzt! Mehr Diplomatie statt mehr Waffen! – Solche oder ähnliche Forderungen kann man in Zeitungen, auf Demo-Plakaten, aber auch in Talkshows hören und sehen. Nicht zuletzt radikale Parteien der Rechten und der Linken inszenieren sich als Friedensparteien und fordern ein Ende der Sanktionen gegen Russland und/oder das Ende militärischer Unterstützung der Ukraine. So wird ein vermeintlicher Gegensatz zwischen (mangelnder) Diplomatie und Waffenlieferungen konstruiert.
Aber stimmt das? Muss man das eine lassen, um das andere zu befördern? Was macht ein Ende von Kriegen wahrscheinlicher? Welche Art Frieden ist für die Ukraine denkbar? Wie kann man einem gerechten Frieden den Weg bereiten? Und welche Funktion haben eigentlich Friedensgipfel, wenn die angreifende Partei gar nicht Teil desselben ist? Diese und andere Fragen wollen wir beim siebten digitalen Studientag der Evangelischen Akademien zur Friedensethik mit Expert:innen aus Politik, Wissenschaft und Kirche diskutieren.
Die Tagung ist auf YouTube noch einmal anzuschauen (url-Link)
Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen
Eine Denkschrift des Rates der EKD, 2007
Für die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) bildet der Friede von Anfang an ein herausragendes Thema öffentlicher Verantwortung. Die Erschütterung über die Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs, Beginn und Verlauf des Ost-West-Konflikts, die Auseinandersetzungen über Wiederbewaffnung und allgemeine Wehrpflicht, die wechselseitige Abschreckung mit atomaren Waffen und die wachsende Aufmerksamkeit für den Nord-Süd-Konflikt – all das waren wichtige Gegenstände kirchlicher Urteilsbildung. Zum Teil stellten sie die kirchliche Einheit auf harte Proben, wie insbesondere die Debatte über die Atomwaffen in den ausgehenden fünfziger Jahren und dann noch einmal in den frühen achtziger Jahren zeigte. Die Arbeit an diesen Themen führte zu kirchlichen Friedensbeiträgen von bleibender Bedeutung; aus ihnen ragt nach wie vor die »Ost-Denkschrift« der EKD von 1965 mit ihrer Ermutigung zu Schritten der Versöhnung heraus. Die auf diesem Weg gewonnenen Einsichten wurden 1981 in der Denkschrift »Frieden wahren, fördern und erneuern« zusammenfassend festgehalten. In den Kirchen der DDR hat sich die friedensethische Urteilsbildung besonders in der Friedensdekade, in der großen Wirksamkeit des Zeichens »Schwerter zu Pflugscharen« und in der beherzten Absage an Geist, Logik und Praxis der Abschreckung Ausdruck verschafft.
Weiterlesen auf www.ekd.de (url-Link)
Erklärung über den Weg des gerechten Friedens
Der gerechte Friede ist ein Weg, der ausgerichtet ist auf Gottes Heilsplan für die Menschheit und die ganze Schöpfung. Er wurzelt im Selbstverständnis der Kirchen, in der Hoffnung auf spirituelle Transformation und dem Aufruf, nach Gerechtigkeit und Frieden für alle zu streben. Es ist eine Reise, zu der wir alle eingeladen sind, um mit unserem Leben Zeugnis abzulegen.
Alle, die nach gerechtem Frieden streben, streben nach dem Gemeinwohl. Auf dem Weg des gerechten Friedens können verschiedene Disziplinen Gemeinsamkeiten entdecken, gegensätzliche Weltanschauungen sich ergänzende Handlungsweisen erkennen und eine Religion sich grundsätzlich solidarisch mit einer anderen zeigen.
Soziale Gerechtigkeit tritt Privilegierungen entgegen, wirtschaftliche Gerechtigkeit dem Reichtum, ökologische Gerechtigkeit dem Konsum und politische Gerechtigkeit Macht an sich. Gnade, Vergebung und Versöhnung werden zu einer Erfahrung, die alle Menschen gemeinsam machen. Der Geist, die Berufung und der Prozess des Friedens werden verwandelt.
Weiterlesen auf www.oikoumene.org (url-Link)
Download der Erklärung (pdf)
Gerechter Friede
Das Bischöfliche Wort „Gerechter Friede“ vom 27.09.2000 ist das Grundlagendokument, die „Magna Charta“ der katholischen Friedensethik in Deutschland. Hatte das Vorgängerdokument „Gerechtigkeit schafft Frieden“ (1983) die Friedensgefährdung in der Epoche des „Kalten Krieges“ zum Thema, geht es im „Gerechten Frieden“ um die Herausforderungen nach dem Zusammenbruch des Kommunismus. Gleichsam als roter Faden ziehen sich die Fragen nach der Entstehung, den Auswirkungen und der Überwindung von Gewalt durch den Text. Breiten Raum nimmt dabei das biblische Fundament der christlichen Friedenslehre ein. Das Bischofswort beschreibt sodann die „Elemente innerstaatlicher und internationaler Friedensfähigkeit“, um in einem dritten Teil die „Aufgaben die Kirche“ zu umreißen.
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Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. – 4. Aufl. – Bonn 2013. – 168 S.(Download pdf)
Schöpfungsverantwortung als Querschnittsthema denken
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